Bereit sein, zu helfen und sich helfen zu lassen: Erfahrungen eines 96-Jährigen
Diakon Friedemann Beyer führte ein Gespräch mit Diakon Günter Seifert, dem derzeit ältesten Diakon der Gemeinschaft Moritzburger Diakone und Diakoninnen:
Erfahrungen eines 96-Jährigen…
Du bist ja der älteste Diakon. Wie fühlst du dich?
Da war ich erstmal erschrocken. Aber ich kann ja so dankbar sein, dass ich noch so vieles schaffen kann. Wenn ich sage: „Ich gehe ins Heim“, da sagt unser Sohn „Die nehmen dich doch gar nicht. Die wissen gar nicht, was sie mit mir machen sollen. Dir geht es noch ‚zu gut‘.“ So ist das jetzt bei mir, aber das kann sich nächste Woche total geändert haben. Wenn Gott mich ruft – meine Zeit steht in seinen Händen und das ist mir recht.
Hattest du früher erwartet, dass du so alt werden würdest?
Nein. Mein Vater ist schon drei Wochen vor seinem 48. Geburtstag an Leukämie gestorben. Es gab ja nach dem Krieg auch keine Arzneien. Meine Mutter ist allerdings über 80 Jahre alt geworden. Ja aber wie alt ich werde, ehrlich gesagt, da habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht.
Hattest du irgendwann so ein Gefühl „vielleicht werde ich doch älter?“
Ich kann nur sagen: „Gott sei Dank!“ Ich war nicht krank. Das heißt: Mir fehlt eine Niere, die haben sie rausgenommen und ich habe auch schwarzen Hautkrebs gehabt. Aber das hat sich alles gegeben. Ich bin jetzt zehn Jahre zur Hautkrebsnachsorge gegangen, aber es ist nichts mehr und da kann ich bloß dankbar sein. Und ich habe immer meine Arbeit tun können. Mit 90 Jahren bin ich noch Fahrrad gefahren. Dann war allerdings Schluss.
Wenn du jetzt mal zurückblickst – was meinst du, was ist die Stärke der Jugend gewesen?
Ach, da war ich nicht so ängstlich und nicht so aufgeregt wie jetzt. Du glaubst ja gar nicht, wie aufgeregt ich bin.
Was würdest du sagen ist die Stärke des Alters?
Vielleicht – du hast nicht mehr so viel Verantwortung. Denn du hast sonst immer deine Vorgesetzten und jetzt hast du niemanden mehr – auch wenn der Brüderälteste kommt.
Was sind für dich die größten Herausforderungen des Alters?
Na, eine große Herausforderung war schon die Pflege meiner Frau, also die letzten zwei Jahre. Da habe ich manchmal gedacht: „Wie lange werde ich das durchhalten?“ Das war schon eine Herausforderung Tag und Nacht. Wir haben uns das Mittagessen bringen lassen und wir hatten auch jemand, der einmal in der Woche zum gründlich Duschen und so kam, das hat tatsächlich eine Pflegekraft gemacht. Aber ansonsten war ich dann eben immer da – also auch in der Nacht. Das war schon eine Herausforderung, aber jetzt sag ich mir: „Gut, dass ich das noch machen konnte.“ Zwei Jahre war das mindestens, aber manche machen das doch noch viel viel länger.
Und für dich persönlich, gibt es da noch was, wo du sagst, das ist jetzt eine Herausforderung?
Ich habe immer ein bissl Angst. Ich denke immer: Hoffentlich gibt’s nicht nochmal Krieg. Also mit der Ukraine, das beschäftigt mich. Jetzt habe ich immer wiedermal Angst, dass es nochmal Krieg geben könnte.
Was sind deine größten Freuden jetzt heute im Alter?
Ich kann mich freuen, dass ich gesundheitlich noch so gut beschaffen bin, dass ich vieles noch hier machen kann. Es kommt eine Frau zu mir einmal in der Woche eine Stunde. Wirtschaftshilfe nennt sich das. Und das Mittagessen lass ich mir bringen. Und das andere mache ich dann. Und die Verbindung zu den ehemaligen Kindern – die sind ja nur 11 Jahre jünger als ich. Also wo ich in der Schule Neulehrer gewesen bin. Gestern ruft mich einer aus Lübeck an. Da habe ich mich wirklich gefreut! Und dann ist noch ein anderer dabei. Der wohnt in der schwäbischen Alb. Der ruft jeden Sonntagabend an und fragt, wie mir‘s geht. Und es ist eben auch so in der Gemeinde hier in Reichenbrand. Da wird auch gefragt: „Was machst du heute Nachmittag?“ Da freu ich mich auch, dass ich hier so aufgenommen bin und jetzt hat eine gesagt: „Wenn du was hast, ruf an. Wir fahren dich hin, wenn es möglich ist. Wir machen das.“ Und dann merke ich diese Verbundenheit und das ist schon eine Freude.
Schön, dass du trotz des hohen Alters immer noch so viel verschiedene Kontakte und Beziehungen hast. Das haben viele Leute in deinem Alter nicht mehr. Wenn du zurückblickst, was ist denn für dich der schönste Lebensabschnitt gewesen?
Es hat in jedem Lebensabschnitt auch Schwierigkeiten gegeben. Meine Kindheit war behütet. Ich war das einzige Kind. Aber meine Eltern waren nicht reich. Mein Vater hat ganz wenig verdient. Aber das war schon eine gute Zeit. Und dann will ich mal sagen: „Jetzt hier die Zeit von der Wende an bis jetzt.“ Also das war eigentlich gut.
Das hast du ja größtenteils als Rentner erlebt
Ja, 1992 bin ich Rentner geworden. Das war wirklich eine schöne Zeit. Und es war schon viel Verantwortung weg, weil man eben schon ausgeschieden war.
Eine Sache hast du ja vorhin schon angedeutet oder schon fast beantwortet. Ich habe mir auch überlegt: Die Zeit, als du deine liebe Frau verloren hast, ist ja wie eine neue Lebensphase. Wie hat das dein Leben verändert?
Dadurch, dass ich noch in der Wohnung geblieben bin, ist die Veränderung nicht gar so groß. Aber ich habe es ja schon gesagt: Meine Frau fehlt mir da sehr. Das sind ganz einfache Sachen. „Das ist doch ein Fleck an deiner Hose dran!“ Die guckt einen ja an, wenn man einkaufen geht oder so. Und diese einfachen Sachen, die fallen alle weg. Oder was machen wir denn mit den Kindern oder mit den Enkeln? Oder einer hat Geburtstag – was schenken wir denn denen? Das musst du immer alles alleine machen.
Ich staune. Du bist auch im Alter ein recht fröhlicher Mensch – so wie ich dich immer erlebe. Was ist dein Geheimrezept, dass man im Alter auch fröhlich sein kann? Ich erlebe dich ganz oft lächelnd, freundlich, fröhlich.
Also fröhlich würde ich nicht sagen. Das ist übertrieben. Manchmal schlaf ich ganz schlecht. Dann mache ich mir Gedanken. Was sagst du denn heute, wenn der Gemeinschaftsälteste kommt. Das ist mit anderen Sachen auch so.
Mir hilft dabei, wenn ich nicht alleine bin, wenn ich mich wieder mal mit Leuten treffe, wo ich mich mit jemanden austauschen kann. Ich gehe auch noch in unseren Ehekreis hier im Reichenbrand. Und dann haben wir hier eine Männerrunde und da geh ich auch noch hin. Aber ein Geheimrezept? Ich kann immer bloß wieder sagen: Lesen wir Gottes Wort und gehen wir zum Gottesdienst, das uns durch die Gemeinschaft und durch Gottes Wort und den Segen weiterhelfen wird. Aber das mit dem fröhlich, das ist übertrieben.
Was für mich noch so eine interessante Frage war: Hat sich für dich das Diakon-sein in seiner Bedeutung oder Wichtigkeit im Laufe der Jahrzehnte verändert?
Als ich Rentner geworden bin, hat sich zwar mein Arbeitsverhältnis gelöst. Aber dass ich zum Diakon eingesegnet worden bin, das hat sich nicht gelöst. Das ist geblieben. Ja, wir sind natürlich durch den 9-Monate-Lehrgang hier nicht so mit Moritzburg verbunden. Das ist schade, aber das war damals scheinbar nötig. Nicht alle, die bei uns im Lehrgang waren, haben sich zum Diakon einsegnen lassen. Da bin ich aber dabeigeblieben. Und wir haben uns eben auch manchmal getroffen: Uhlig Eberhard, Helbig Heinz und ich – drei alte Diakone – also altersmäßig. Und haben wir gesagt: Wir gehören zusammen. Wir sind alle Moritzburger und da haben wir auf einmal gemerkt, wie wir in Moritzburg damals aufgenommen worden sind in den Lehrgang, das war so gut für uns, das hat das alles zusammengehalten. Denn ich muss schon sagen: Nachdem ich als Lehrer unterwegs war, die haben mich dort aufgefangen. Was hätte ich denn sonst machen sollen, das war für mich ganz ganz wichtig. Das war auch die Meinung der anderen beiden. Und das hat uns zusammengehalten.
Kannst du uns eine Lebensweisheit für die Jugend von heute mitgeben?
Wenn ich an die Christen denke, und da denke ich auch an unsere zwei Mädels, denen fehlt die Verbindung zur Gemeinde und dass sie dort in der Gemeinde dann auch eine Aufgabe haben. Wir brauchen die Verbindung zur Gemeinde und dass wir dort auch Gottes Wort hören und gesegnet werden. Wenn ich an meine Jugend denke…Wir haben in Stelzendorf drüben gewohnt. Ich wusste gar nicht, dass Weihnachten was mit der Kirche zu tun hat. Da drüben gab es keine Kirche. Aber durch die Verbindung zur Gemeinde bin ich erst in sie reingewachsen. Und weil wir dabeigeblieben sind, ist das dann so gekommen. Und darum alle, die jetzt dabei sind, die sind alle in ihrer Gemeinde gewesen und das ist ganz wichtig! Wir brauchen die Gemeinde und wir brauchen Gottes Wort.
Ach, vielleicht das noch mit dem Diakon-sein: Ich meine, viele werden vielleicht gar nicht wissen, was dazugehört, mit den Einsegnungen und mit dem allen. Aber eins denke ich schon, wenn ich das so merke: Die Leute in der Gemeinde erwarten einfach von dir, wenn du bei der Kirche gearbeitet hast, dass du dann nicht sagst: „So jetzt bin ich Rentner. Jetzt könnt ihr mich gerne haben.“ Die erwarten, dass du dich dann mit einbringst. Und das habe ich dann auch – zumal ich gesundheitlich noch ganz gut geschaffen war – gemacht. Und da habe ich dem Pfarrer Viertel gesagt: „Wenn Sie mal jemanden brauchen, da bin ich auch bereit, was zu machen.“ Für die damalige Zeit war das schon eine Besonderheit: Der hatte zwei Predigtstellen: seine Kirche hier in Reichenbrand und in Stelzendorf drüben die kleine Kapelle. Da er aber nicht an zwei Stellen sein kann, da gab es viele ehrenamtliche Mitarbeiter der Gemeinde. Und da habe ich mich eben auch mit dazugestellt.
Das war nochmal ein guter Gedanke, dass man im Alter trotzdem noch gebraucht werden kann, sich einbringen und damit auch ein Stück eine sinnvolle Tätigkeit hat.
Also ich will mal sagen: Du musst natürlich auch vielleicht selber bereit sein. Der Pfarrer Viertel ist nicht zu mir gekommen und hat gesagt: „Sie könnten mal…“ Aber als er gemerkt hat, ich bin bereit, dann hat er sich auch getraut, was zu sagen.
Wie gesagt: Mir fehlt meine Frau schon sehr, aber einsam und verlassen bin ich durch die Gemeinde nicht. Unser Sohn war jetzt 14 Tage in Schottland. Da hatte ich, ehrlich gesagt, schon Angst gehabt. Wenn die jetzt nicht da sind. Was soll denn da mal werden? Aber siehst du: Da musst du auch mit jemandem reden. Eine Frau hier im Haus, die kennen wir auch durch die Gemeinde, mit der haben wir ausgemacht: Früh rufen wir an und fragen: „Bist du aufgestanden? Wie geht es dir?“ Und jetzt sag ich: „Unsere Kinder sind wieder da. Wir können wieder aufhören.“ „Oh nein“ sagt sie, „wir machen weiter. Dann kannst du auch fragen, wir mir es geht.“
Stimmt! Sich im Alter gegenseitig helfen ist gut!
Ja. Du musst aber eben selber auch bereit sein, etwas zu machen.
Das ist doch eine gute Lebensweisheit!
Ja, bereit sein, zu helfen, aber auch bereit sein, sich helfen zu lassen.
Danke für das Gespräch!