Die Kirche der Zukunft wird diakonisch sein – oder sie wird nicht mehr sein
Eine Reaktion auf die VI. EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung
aus Sicht von Diakoninnen und Diakonen
In Anlehnung an ein bekanntes Zitat des Theologen Karl Rahner, bei dem es um mystisches Christsein geht, lassen sich die Ergebnisse der VI. EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung in eine konkrete Richtung interpretieren: In eine diakonische. Die Zustimmungswerte zu diakonischem und pädagogischem Handeln der Evangelischen Kirche und ihrer Diakonie treten in besonderer Weise aus der Datenlage hervor.
Kirchliche Praxis
Unter evangelischen Befragten genießt die Evangelische Kirche ein im Grundsatz hohes, gestiegenes Vertrauen. Für den Löwenanteil der befragten Christen ist „das Christentum die Grundlage der westlichen Kultur“. 80% aller Befragten benennen dafür „Kirchliche Bildungsangebote“ als eine Quelle ihrer religiösen Sozialisation. Die hohe Zahl der evangelisch Befragten, die innerhalb ihrer eigenen Biographie Kindergottesdienste (54%), Christenlehre (79%, Ostdeutschland) und andere Angebote kirchlicher Kinder- und Jugendarbeit (48%) erlebt haben, unterstreichen die Bedeutung der Gemeindepädagogik.
Die Mehrheit der Evangelischen und Katholischen lehnt die These ab, dass sich Kirchen allein auf die Beschäftigung mit religiösen Fragen beschränken sollen. Danach zeigen sich kirchliche Lebensäußerungen nicht nur in Gottesdiensten und kirchlichen Ritualen. Es gehört für mehr als Dreiviertel der Befragten zum theologisches Kerngeschäft der Kirche, sich aktiv in den Sozialraum einzubringen. Die überdurchschnittliche Zahl kirchlich verorteter Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren und dies auch über den kirchlichen Rahmen hinaus tun, unterstreicht diese These praktisch.
Diakonisches Tun
Für 89% der Befragten erweist sich Christsein im Lebensvollzug, nämlich in der Bemühung, ein anständiger und zuverlässiger Mensch zu sein. Nur für etwa 14% bzw. 10% ist es wichtig, regelmäßig zur Kirche zu gehen oder in der Bibel zu lesen. Dass der Hauptgrund zum Austritt aus der Evangelischen Kirche eine „unglaubwürdige Kirche“ (79%) ist, zeigt, dass in der Erwartung der Befragten Wort und Werk zusammengehören.
Grundsätzlich ist das „Vertrauen“ in „Diakonie und Caritas“ sowohl bei Evangelischen (leicht) als auch bei Konfessionslosen (deutlich) höher als in „die Evangelische Kirche“. Auch der Hauptgrund, warum Menschen Mitglied der Kirche bleiben, ist ein diakonischer: „Weil sie etwas für Arme, Kranke und Bedürftige tut.” Der zweite Grund ist, weil sich die Kirche für „Solidarität und Gerechtigkeit und (…) die Zukunft der Menschen einsetzt“. Fragen nach Bestattung, innerem Halt, Mitgliedschaft aus sozialer Erwünschtheit, Patenschaftsoptionen oder spiritueller Verortung sind dem deutlich nachgeordnet.
Der soziale Anspruch für kirchliches Handeln zeigt sich auch in den hohen Zustimmungswerten aller Befragungsgruppen (davon 96% der Evangelischen) zu kirchlichen „Beratungsstellen für Menschen mit Lebensproblemen“, die in der Regel von diakonischen Trägern betrieben werden. Dass auch der Einsatz für Geflüchtete für fast 80% der befragten Evangelischen eine starke Erwartung an die Kirche ist und die Antworten auf die Frage nach Äußerungen der Kirchen zu politischen Grundsatzfragen ambivalent sind, zeigt, dass auch hier das praktische Tun gefragt ist – und die Kirche sich dennoch selektiv auch politisch zu Wort melden sollte.
Professioneller Dienst
Gemäß der Erhebung haben die Befragten mit „Kirchlichen Mitarbeiter/innen in der Jugend-, Familien-, Senioren- und Sozialarbeit“ (55%) nach den Pfarrerinnen und Pfarrern (74%) die zweithöchste Kontakthäufigkeit. Die zumeist nicht-pastoralen Handlungsfelder der pädagogischen Arbeit mit Kindern, Jugendlichen, Familien und Senioren in Kirchengemeinden und Regionen, die spezifischen sozialdiakonischen Angebote diakonischer Träger oder die Begleitung und Koordination Ehrenamtlicher – all diese Dienste genießen bei den Befragten einen außerordentlich hohen Stellenwert. Interprofessionell vorbereitete und durchgeführte Ereignisse wie Weihnachtsgottesdienste (Platz 1, oft mit Krippenspiel) und Familiengottesdienste (Platz 4) gehören zu den am stärksten besuchten Gottesdienstformaten.
Dass Konfirmation und das Erleben kirchlicher Jugendgruppen neben Religionsunterricht und Primärsozialisationspersonen als wichtigste Faktoren für die Verfestigung religiöser Einstellungen genannt werden, untermauert die Notwendigkeit einer professionellen pädagogischen Begleitung dieser Angebote. Auch wenn die Bezeichnungen für die hauptberuflichen Ämter und Dienste dafür je nach Landeskirche variieren (Diakon:innen, Gemeindepädagog:innen, Katechet:innen, Jugendreferent:innen u.ä.) und die Ausbildungshintergründe der Mitarbeitenden verschieden sind, zeigt die KMU VI eindrucksvoll, dass es nicht nur für die Dienste in multiprofessionellen und interdisziplinär arbeitenden Teams eine Berufsgruppe neben den Pfarrer:innen braucht, die spezifische Fachkompetenzen mit theologischer Haltungs- und Handlungskompetenz verbindet. Die in der „Kompetenzmatrix 2.0“ des VEDD 2019 beschriebenen Bildungsgrundlagen können dafür einen vergleichbaren Maßstab bieten.
Ausblick
Eine zeitgemäße, zukunftsorientierte Kirche besinnt sich ihrer geistlichen Grundlagen, ist sensibel für die sozialen, politischen und kulturellen Herausforderungen der Zeit und bringt sich aktiv ins Gemeinwesen ein. So jedenfalls kann ein Fazit aus der Auswertung der 6. EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung lauten. Für die 5.282 Befragten gilt Bibel nicht nur am Sonntagvormittag, die Erwartungen an „die Kirche“ gehen weit über binnenkirchliches Gemeindegeschehen hinaus. Die Befragungsergebnisse zeigen eindrucksvoll, dass Werte und Werke, Haltung und Handlung, Gemeinde und Gemeinwesen zusammengehören und sich Kirche auch entsprechend zeigen soll. Kirchliches Handeln, so lassen sich die Antworttendenzen deuten, ist um Gottes Willen kein Selbstzweck, sondern erweist sich exemplarisch im christlichen begründeten Dienst an den Nächsten und Übernächsten.
Im 175. Jubiläumsjahr der verfassten Diakonie in Deutschland sieht sich der Verband Evangelischer Diakonen-, Diakoninnen- und Diakonatsgemeinschaften in Deutschland e.V. (VEDD), dessen Ursprünge gleichsam auf Johann Hinrich Wichern zurückgehen, in seiner Arbeit und der seiner Mitgliedsorganisationen bestätigt. Die 20 im VEDD zusammengeschlossenen Gemeinschaften sowie die mit ihnen verbundenen Bildungsträger und Diakonischen Unternehmen stehen für eine zeitaktuelle und lebensweite soziale, geistliche und professionsspezifische Begleitung der dort beheimateten Geschwister, stärken die berufliche Identität und dienen der fachlichen Qualitätsentwicklung. Die Kirche der Zukunft wird diakonisch sein – und nach bundesweiten Standards gut ausgebildete Diakoninnen und Diakone sind wichtige Gestaltungspersonen.
Diakonin Heike Gatzke, Vorsitzende des Verbandes Evangelischer Diakonen-, Diakoninnen- und Diakonatsgemeinschaften in Deutschland e.V. (VEDD)
Diakon Tobias Petzoldt, Geschäftsführer des Verbandes Evangelischer Diakonen-, Diakoninnen- und Diakonatsgemeinschaften in Deutschland e.V. (VEDD)
Grafiken: EKD (https://kmu.ekd.de)