Wie ChatGPT, nur schlauer: Die Schwarmintelligenz des Martineums
Im Gespräch mit Britta Lauenstein, Sascha Dornhardt und Jule Schaller
VEDD: Warum sollte ich ausgerechnet Mitglied in eurer Gemeinschaft werden? Die Auswahlmöglichkeiten sind groß in Deutschland.
Britta: Ich tue mich schwer, mich auf Kosten anderer zu profilieren. Jede Gemeinschaft im VEDD ist es wert, dass man dort Mitglied wird. Es gibt natürlich auch gute Gründe, um ins Martineum zu kommen. Zum einen wäre da die räumliche Nähe im Ruhrgebiet – sucht man im Ruhrgebiet Anschluss, dann sind wir eine gute Adresse. Und auch dann, wenn man eine bunte, vielfältige und tolerante Gemeinschaft sucht. Wir versuchen, allen menschenfreundlich zu begegnen, wir wollen eine Gemeinschaft sein, in der man sein kann, wie man ist. Diese Dinge würde ich auch keiner anderen Gemeinschaft absprechen wollen, aber wir sind im Martineum schon stolz darauf, dass wir in manchen Dingen sehr tolerant sind. Wir haben zum Beispiel schon früh Frauen aufgenommen und gleichgeschlechtliche Paare gesegnet, wir haben eine große Offenheit für alle Lebensvielfalten dieser Welt, das zeichnet uns aus.
Sascha: Der größte Zugang in die Gemeinschaft ist das Studium. Wir haben eine starke Studierendengemeinschaft. Dadurch gibt es eine große Vielfalt, wir sind in Alters- und Lebensfragen bunt gemischt. Und ich glaube, darüber wird ein starkes Gemeinschaftsgefühl projiziert.
Jule: Unser Slogan ist ja „Willkommen zu Hause“. Ich glaube, das ist das Gefühl, das bei uns Zugehörigkeit vermittelt. Britta spricht immer von der Schwarmintelligenz, die ist auch ganz wichtig für unsere Gemeinschaft. Man findet immer jemanden, der einem weiterhelfen kann.
VEDD: Das mit der Schwarmintelligenz müsst ihr mir nochmal genauer erklären.
Sascha: Der Begriff hat sich irgendwie eingebürgert. Er beschreibt diesen Netzwerkgedanken, der sehr niederschwellig ist. Ich glaube, ich bin in keinem besseren Netzwerk für gemeindepädagogische und diakonische Fragen, als im Martineum. Für das Netzwerk ist es eben nicht nötig, dass es Open Spaces oder organisierte Treffen gibt, sondern es geht darum, für akute Fragen Unterstützung zu bekommen. Das reicht von: „Ich habe eine Frage zum Thema Kindergottesdienst zu Josef bis hin zu „Kennt ihr ein Gruppenhaus in Schweden, das 49,8 Teilnehmende beherbergen kann?“ Das ist ein bisschen wie ChatGPT.
Britta: Nur viel schlauer, weil wir direkt wissen, worum es den anderen geht, man muss nicht so viel erklären.
Jule: Und die Schwarmintelligenz kann viel mehr übernehmen als ChatGPT. Zum Beispiel: „Kann mir jemand beim Umzug helfen?“ Das Menschliche ist da eben auch ganz wichtig.
VEDD: Ich glaube, ich habe ein erstes Bild im Kopf. Wenn ich mich jetzt entschieden habe, Mitglied bei euch zu werden: Welche Wege gibt es?
Britta: Natürliche und juristische Personen, also echte Menschen, aber auch Gemeinden oder Kirchenkreise können bei uns Mitglied werden.
VEDD: Gemeinden?
Britta: Das ist aus der Idee entstanden, den früheren Gestellungsverträgen eine neue Form zu geben. Viele Kirchenkreise haben gesagt, dass sie es sich zwar nicht leisten können, für jeden Diakon einen Profilbeitrag zu zahlen, uns aber gern dauerhaft unterstützen wollen. Deshalb haben wir mit der letzten Satzungsänderung ermöglicht, dass juristische Personen für 500 Euro Jahresbeitrag Mitglied werden können. Das sind jetzt nicht die Massen, aber einige sind es schon. Als natürliche Person muss man keine besonderen Bedingungen erfüllen, um bei uns Mitglied zu werden. Man muss kein Kirchenmitglied sein, aber man muss die Satzung unterschreiben und sich damit den christlichen Grundsätzen verpflichten. Man muss auch kein Diakon oder keine Diakonin sein und es gibt auch keine Gewissenprüfung, bevor man aufgenommen wird, man sollte nur eine Beziehung zum Martineum haben. Man stellt seinen Antrag, der Vorstand entscheidet über den Antrag, und dann werden die Leute bei der Mitgliederversammlung förmlich in den Verein aufgenommen und in einem Gottesdienst geistlich in die Gemeinschaft.
VEDD: Wenn ich also eine Freundin im Martineum habe und mir die geistliche Heimat dort gut gefällt, dann wäre das für euch schon Grund genug, mich aufzunehmen, auch wenn ich vielleicht katholisch und Schreinermeisterin bin?
Britta: Sehr gerne sogar.
VEDD: Wieso sollte ich dann überhaupt die Ausbildung als Diakonin machen, wenn ich bei euch einfach so Mitglied werden kann?
Sascha: Weil du durch die Mitgliedschaft allein ja keine Diakonin bist. Das sind zwei verschiedene Perspektiven. Entweder fühle ich mich im Martineum geistlich zu Hause und werde deshalb Mitglied, aber das haben wir nicht so oft. Die meisten sind schon Diakon oder Diakonin oder haben den Weg zumindest begonnen. Manchmal ändern sich Lebenswege, dann wird ein Studium vielleicht abgebrochen. Diese Menschen bleiben dann trotzdem oft Mitglied.
Britta: Die Studierenden sind bei uns schon Vollmitglieder, schon allein deshalb könnte „Diakon:in sein“ nicht die entscheidende Bedingung für die Mitgliedschaft sein. Die Studierenden treten zum Beginn der Ausbildung ein und gestalten sie aktiv mit, das hat einen hohen Bindungsfaktor. Deshalb ist es uns wichtig, auch im Scheitern die Menschen weiter zu begleiten, so dass sie nicht auch noch ihre Gemeinschaft verlieren, wenn sie das Studium abbrechen. Wir haben auch öfter die Situation, dass die Ehefrauen von älteren Brüdern, die selbst nicht in der Gemeinschaft waren, nach dem Tod trotzdem gemeinschaftlich gebunden bleiben möchten, weil das Martineum eben ihre Heimat ist. Diese Umstände haben dazu geführt, dass wir die Mitgliedschaft für Nicht-Diakone zwar nicht in Massen ausbauen, sie aber jederzeit anbieten.
VEDD: Und was ist der Standardweg?
Britta: In der Regel studiert man in Bochum Gemeindepädagogik und Soziale Arbeit. Soziale Arbeit kann man theoretisch auch woanders studieren oder schon mitbringen. Der sogenannte Doppelbachelor Gemeindepädagogik und Soziale Arbeit dauert vier Jahre (sechs und zwei Semester). Wenn man Soziale Arbeit schon mitbringt, kann man es je nach Anerkennung schon in zwei Semestern schaffen. Dazu kommen noch bestimmte Ausbildungsanteile, die Ausbildungsbegleitung, die das Martineum zusätzlich zum Studium anbietet.
VEDD: Ich habe jetzt wirklich viele Fragen. Im Grunde seid ihr also sehr niederschwellig, auch für Mitglieder anderer Gemeinschaften, die dieses ganze Studium schon in einer anderen Landeskirche gemacht haben, oder? Aber die Einsegnung findet ja nicht in die Gemeinschaft statt, sondern in die Landeskirche.
Sascha: Die Einsegnung selbst vollzieht die Landeskirche, genau, aber in Kooperation mit unserer Gemeinschaft. Bei der Einsegnung segnet eine Vertretung der Landeskirche die Menschen formal ein und sie bekommen mit einer landeskirchlichen Urkunde den Titel Diakonin oder Diakon verliehen. Wir bezeugen gegenüber der Landeskirche, dass diese Menschen alle Voraussetzungen erfüllt haben und deshalb zur Einsegnung zugelassen werden können.
VEDD: Aber eingesegnet werden nur Diakone und Diakoninnen?
Sascha: Die alle Voraussetzungen erfüllen, die die Landeskirche vorgibt, genau.
Britta: Wir bezeugen die Ausbildung, aber die Landeskirche entscheidet, ob das reicht. Die Landeskirche setzt einen Sozialberuf voraus, also einen Bachelor zum Beispiel in Sozialer Arbeit. Dazu die theologische Weiterbildung als Gemeindepädagog:in und dann noch die Ausbildungsanteile des Martineums. Wenn jemand Erzieherin oder Erzieher ist und dann Gemeindepädagogik studiert, aber nicht mehr soziale Arbeit studieren will, dann kann die Landeskirche das unter Umständen auch anerkennen. Das sind aber eher Sonderwege der Landeskirche.
VEDD: Kann ich auch eingesegnet werden, wenn ich nicht Mitglied im Martineum bin?
Britta: Ja, das geht auch.
Sascha: Du wirst dann landeskirchlich eingesegnet, zum Beispiel in der Gemeinde, in der du tätig bist. Aber an der Einsegnung des Martineums nimmst du nur als Gemeinschaftsmitglied teil.
Britta: Früher war das anders. Früher konnte die Landeskirche sagen: Diese Person möchte Diakon oder Diakonin werden, bitte segnet sie bei euch mit ein. Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Wir können jetzt entscheiden, ob wir bei unserer Einsegnung nur Menschen einsegnen, die auch Gemeinschaftsmitglieder werden wollen. Alle paar Jahre segnen wir trotzdem externe Personen mit ein, die durchlaufen dann aber auch eine Mini-Schulung zum Martineum. Manchmal werden das dann besonders aktive Gemeinschaftsmitglieder. Aber meistens werden sie zwar Mitglied, treten dann aber nicht mehr weiter in Erscheinung. Manche Studierende unterschätzen auch den Berufsalltag, sie werden nach der Einsegnung quasi erst mal vom Job aufgefressen und fragen sich dann später: Wo ist eigentlich das Martineum in meinem Leben geblieben?
VEDD: Jule, erzähl mir etwas über die Ausbildung. Würdest du sie wieder machen?
Jule: Auf jeden Fall. Als Vertreterin in der BDK des VEDD hatte ich viel Kontakt zu anderen Studierendengemeinschaften. Daher weiß ich es sehr zu schätzen, dass wir Studierende im Martineum bereits Mitglieder der Gemeinschaft sind und diese Zugehörigkeit wahrnehmen. Wir haben einen hohen Anteil an der Mitgestaltung des Martineums und sind mit festen Sitzen in vielen Gremien vertreten. So fühlen wir uns von Anfang an als vollwertige Mitglieder. Auch auf Jahrestreffen wird kein Unterschied gemacht. Wer da Studi ist und wer nicht, das merkt man erst, wenn Britta sagt: „Jetzt mal alle Studis aufstehen, bitte.“ Es ist so schön, neben der Gemeinschaft an der Hochschule noch ein einen anderen Rückhalt zu haben. Die Ausbildung kann man sich auch sehr flexibel gestalten, für mich war das alles gut machbar.
VEDD: Ich kann das Studium komplett durchlaufen, ohne Mitglied zu werden oder auch erst hinterher Mitglied werden?
Britta: Die meisten wollen schon direkt nach dem Studium eingesegnet werden. Deshalb empfehlen wir, wenn man Diakon:in werden will, den Quereinstieg in die Gemeinschaft bis zum 5. Semester des ersten Studiums. Dann sind es noch vier Semester Regelstudienzeit, dann schafft man auch die Ausbildungsanteile des Martineums. Das sind unter anderem 16 Studientage, die Jahrestreffen und das Mentoring und man muss auf eine Studien- und eine Einsegnungsvorbereitungsfahrt mitfahren. Diese Elemente sind dazu gedacht, dass man gut in die Gemeinschaft hineinwächst. Das braucht eben seine Zeit.
VEDD: Und das alles schafft man neben dem Studium zusätzlich?
Britta: Die 16 Studientage sind auf die ganze Zeit verteilt, nicht pro Jahr. Wenn man später startet, dann muss man sich halt ein bisschen mehr reinhängen. Manche wollen aber auch den Studi-Status gar nicht verlassen, das ist ganz unterschiedlich. Vor kurzem haben wir zum Beispiel eine Frau eingesegnet, die vor 20 Jahren Soziale Arbeit studiert hat und die seitdem beim ASD gearbeitet hat. Nun wollte sie sich aber nochmal beruflich verändern und hat dann in zwei Jahren Gemeindepädagogik studiert und alle Ausbildungsanteile des Martineums durchlaufen. Anfang der 80er Jahre hatte sich auch mal ein Mann im Martineum beworben, der wurde damals abgelehnt. Zu der Zeit hatten wir nur zehn Ausbildungsplätze, aber 120 Bewerbungen. Seinen Berufswunsch hat er sich aber bewahrt und hat sich mit über 50 Jahren nochmal beworben und wurde vor ein paar Jahren eingesegnet.
VEDD: Wenn ich bei euch Mitglied bin: Was erwartet mich bei euch?
Britta: Erst mal die Fakten: Wir sind 320 Menschen, davon 60 Studierende und ungefähr 60 bis 80 Personen im Ruhestand.
Sascha: Wir treffen uns nicht wöchentlich. Also manchmal doch, aber nicht unter dem Deckmantel einer offiziellen Veranstaltung. Viele Mitglieder sind auch einfach so befreundet. Ich habe auch viele Martineumsgeschwister in meinem engsten Freundeskreis. Die wichtigste Veranstaltung ist das Jahrestreffen. Wir sind weit verstreut in Deutschland und zum Teil auch im Ausland, aber zum Jahrestreffen kommen die Menschen von überall her. Regelmäßiger könnten wir uns gar nicht treffen, das wäre für viele gar nicht möglich, vor allem, wenn man im Berufsleben steht oder kleine Kinder hat. Beim Jahrestreffen kommen rund ein Drittel der Mitglieder zusammen. Das Frühjahrstreffen erfreut sich auch immer größerer Beliebtheit. Und dazwischen gibt es die Studientage, die für alle Gemeinschaftsmitglieder offenstehen. Ich kann das Martineum mein Leben lang als Fortbildungsportal nutzen. Übers Jahr verteilt bieten wir auch immer wieder Aktionen an, zum Beispiel besondere Gottesdienste.
Britta: Ein regelmäßiges Angebot ist das Format „Mittendrin“, das haben wir in der Corona-Zeit eingeführt und es findet immer am 24. eines Monats statt, außer im Dezember. Manchmal sind das analoge Veranstaltungen wie Picknicks und manchmal digitale Formate, damit auch Menschen von weiterweg teilnehmen können. Während Corona hatten wir eine Aktion, die hieß „Aufruf zum Anruf“. Jüngere Gemeinschaftsmitglieder haben die älteren, die nicht so digital vernetzt waren, angerufen. Da sind viele Kontakte entstanden, die über Corona hinaus gehalten haben. Wir haben auch telefonische Hilfe beim Einloggen in Zoom-Konferenzen angeboten. Das hat dazu geführt, dass einige auch sehr alte Mitglieder regelmäßig an diesen digitalen Formaten teilnehmen. Die hybriden Gremien sind auch ein großer Treffpunkt. Alle Gemeinschaftsmitglieder werden außerdem einmal pro Jahr aufgefordert, sich mit Angeboten für Studientage zu beteiligen. Wenn ich zum Beispiel viel weiß über Bibel Escape Rooms, dann kann ich mich melden und einen Studientag anbieten. Neben Studientagen gibt es auch noch ein halbtägiges Format, die sogenannten Methodenmontage. Die eignen sich super zum Ausprobieren von Dingen. Nächstes Jahr machen wir zum Beispiel einen Methodenmontag zum Veeh-Harfe-Spielen. Manchmal entdeckt man versteckte Talente. Für viele, die sich spezialisieren oder besondere Kenntnisse haben, ist das eine Möglichkeit, das eigene Wissen zu teilen.
VEDD: Da wären wir wieder beim Thema „Schwarmintelligenz“.
Britta: Genau.
Jule: Es gibt auch noch Regionalgruppen, die sind allerdings nicht alle aktiv. Eher außerhalb, beispielsweise in Dortmund. Ein wesentlicher Aspekt, vor allem in der Ausbildung, ist das Mentoring. Jeder Studi bekommt ein Gemeindemitglied als Mentor:in für die Studienzeit und man selbst kann dann hinterher auch Mentor:in für einen Studi werden, das ist ein toller Verbindungspunkt zwischen den Menschen.
VEDD: Wo macht ihr das alles – wo sind eure besonderen Orte?
Sascha: Eigentlich überall, wir sind quasi weltweit verteilt. Das Martineum ist da, wo wir sind. An zwei Orten sind wir allerdings regelmäßig, das ist einmal die Hochschule und einmal das Lukaszentrum in Witten, allerdings hatte das Lukaszentrum einen Wasserschaden und ist seitdem eine Baustelle. Da fanden bisher unsere Jahrestreffen statt. Jetzt nutzen wir unsere Schwarmintelligenz. Wir haben viele Gemeindemitglieder, die in Gemeinden arbeiten und uns dann zu Veranstaltungen einladen können. Jeder Mensch bringt einen Ort mit. Da können wir gut daraus schöpfen. Manche hätten schon gern den einen Martineums-Ort, aber ich persönlich finde es nicht schlimm, dass wir den nicht haben. Wir haben natürlich Büros im Lukaszentrum und Britta hat auch ein Büro in der Hochschule. In Witten treffen wir uns auch zu den Vorstandssitzungen. Aber grundsätzlich sind wir flexibel. Martineum ist überall dort, wo Menschen sind, die Martineum sind.
VEDD: Wie beeinflusst das euer geistliches Leben, dass ihr nicht den einen Ort habt?
Sascha: Das Jahrestreffen im vergangenen Jahr haben wir in einer Gemeinde etwa 30 Kilometer von Witten entfernt gefeiert. Dort habe ich gleich geistliche Heimat gespürt, weil die Leute eben dort waren. Es ist wirklich verrückt, man erkennt seine Gemeinschaft schon am Gesang und natürlich an den Gesichtern. Dann ist es doch egal, ob wir in Berlin oder in Witten sitzen. Ich spüre überall das Martineum. Andere leiden da sicher drunter, aber ich persönlich sehe das so.
Britta: Das Martineum ist immer seiner Ausbildung hinterher gewandert. Das ist anders als zum Beispiel im Johannesstift, wo es diese eine Kirche gibt und den einen Campus. Diese räumliche Oase, wo alle untrennbar mit der Gemeinschaft verbunden sind, die gibt es bei uns nicht. Wie Sascha gesagt hat: Martineum ist, wo die Menschen sind.
VEDD: Ihr seid ja auch nicht an einen diakonischen Träger gebunden.
Britta: Genau. Das gibt uns Unabhängigkeit und gleichzeitig sind wir auch immer gefährdet von der Pleite. Das hat uns in schwierigen Zeiten sehr zusammengeschweißt. Mit der Hochschule ist es eine sehr gleichberechtige Zusammenarbeit. Die Hochschule weiß, was sie an uns hat und gleichzeitig wissen wir, dass die Hochschule auch ohne uns auskommen würde. Wir respektieren uns gegenseitig. Dabei hilft natürlich, dass ich mit jeweils zwei halben Stellen in Bochum und in Witten bin. Dadurch kann ich das gut zusammenhalten und beide Seiten wissen immer gut voneinander. Kommunikation ist alles.
VEDD: Du hast ein bisschen von früher erzählt. Wo kommt ihr her?
Britta: Das Martineum wurde 1907 in Witten gegründet. Damals ging es darum, „den subversiven Kräften der SPD etwas entgegenzusetzen und junge Männer von der Straße zu holen“, so steht es zumindest in den alten Vereinsdokumenten. Es ging darum, jungen Männern eine berufliche Perspektive zu bieten. Es gab eine Zeit, in der das Martineum sehr eng mit der evangelischen Stiftung Volmarstein gearbeitet hat, das ist ein großes diakonisches Werk in Wetter. Es ist allerdings ein Streit entbrannt über die Menge an Mitbestimmung, an dessen Ende man sich wieder getrennt hat. Ein Gebäude dort heißt allerdings bis heute Martineum, das haben Diakonenschüler des Martineums in den 1950er Jahren gebaut. In den 70ern hat man sich getrennt. In der Zeit wurde das Martineum eine Geschwisterschaft, die erste Frau wurde aufgenommen. Auch die Ausbildung war früher anders organisiert. Das Martineum hat bis 2004 die Ausbildung ganz allein angeboten. Es gab ein praktisches Jahr, den Unterkurs, dann die Soziale Ausbildung an einer Hoch- oder Fachschule, und dann noch ein Jahr den TOK, den theologischen Oberkurs. Im TOK gab es nur zehn Plätze, weil die Studierenden gemeinsam in einer WG wohnen mussten – und die hatte eben nur zehn Betten. Das konnte das Martineum sich aber nach einem Einbruch der landeskirchlichen Zuschüsse Anfang der 2000er Jahre nicht mehr leisten. 2004 wurde dann alles umgekrempelt, die Wohnpflicht wurde aufgehoben und die heutige Ausbildungsform mit dem Doppelbachelor an der EvH geschaffen.
VEDD: Und was ist eure Zukunftsperspektive?
Sascha: Wir haben zwei große Themen. Das eine ist, dass wir der Sehnsucht nachgehen, die Gemeinschaft als solche voranzubringen, deshalb haben wir gerade erst eine Diakonin für die Gemeinschaft eingestellt. Eben weil wir keinen Gemeinschaftsort haben, ist es wichtig, Identifikationsmöglichkeiten mit dem Martineum zu schaffen und den Menschen zu ermöglichen, Gemeinschaft zu erfahren. Sie sollen das sichere Gefühl haben, dass das Martineum Teil ihres Lebens ist. Außerdem wollen wir daran arbeiten, noch präsenter in unserer Landeskirche zu werden und uns stärker zu profilieren. Wir wollen den Leuten zeigen: Wir sind das Martineum und Diakon ist ein großartiger Beruf, der Zukunft hat. Dafür arbeiten wir an unserer Öffentlichkeitsarbeit. Wir haben Filme gedreht und erstellen gerade eine neue Landingpage, wo Menschen gut im Martineum „landen“ können und ein Gefühl dafür bekommen, was das Martineum ist.
Britta: Die Ausbildung entwickeln wir auch konstant weiter. Wir sind ja quasi der Blinddarm der EvH.
VEDD: Schön, wenn man ihn noch hat, aber nötig ist er nicht?
Britta: Naja, Ich würde ja auch sagen, wir sind das Herz der EvH, aber das wäre vielleicht genauso übertrieben. Blinddarm ist sicher etwas niedrig gestapelt. Was ich sagen will: Wir sind als Ausbildung auf jeden Fall abhängig von der EvH. In Bielefeld zum Beispiel wird jetzt der Studiengang ausgesetzt, weil zu wenig Bewerbungen dafür eingegangen sind. Davon sind wir zum Glück weit entfernt, dieses Jahr fangen 20 Studierende mit Gemeindepädagogik an. Aber wenn das an der EvH passieren würde, dann wären wir sofort elementar betroffen. Und auch wenn die Landeskirche ihre Zuschüsse streicht, dann ist die Ausbildung und durch den fehlenden Nachwuchs dann auch die Gemeinschaft gefährdet. Das sind unsere Unsicherheitsfaktoren. Wir stimmen die Ausbildungsinhalte immer mit der EvH ab. Wenn die Hochschule akkreditiert wird, dann prüfen wir auch das Curriculum des Martineums. Müssen wir etwas verändern, wollen wir etwas ergänzen? Im Moment sind wir noch eine wachsende Gemeinschaft, es treten mehr Menschen ein, als Mitglieder versterben, wir sind also gut aufgestellt. Ich glaube, der Knackpunkt ist, dass die Studierenden von Anfang an Mitglieder sind, das ist ein Segen für die Gemeinschaft. Sie werden einfach von Anfang an mit einbezogen und machen das Martineum zu ihrem Martineum. Das führt immer wieder zu Innovation.
Diakonin Dr. Britta Lauenstein ist Studienleitung des Martineums und Dozentin an der Ev. Hochschule Bochum.
Diakon Sascha Dornhardt ist Krankenhausseelsorger und stellv. Vorsitzender des Martineums, außerdem Mentor und Referent von mehreren Studientagen pro Jahr.
Jule Schaller ist Studentin und bald eingesegnete Diakonin, jahrelange BDK-Delegierte des Martineums und 2025 ebenfalls Referentin eines Studientags.
Das Interview führte Diakonin Arnica Mühlendyck, Öffentlichkeitsreferentin im VEDD e.V..
Ladet hier das vollständige Interview als PDF. Interview_Martineum_2024_pdf (5 Downloads )
Mehr Informationen zum Martineum gibt es auf ihrer Website.