Zukunft ist Veränderung
Im Gespräch mit Claudia Rackwitz-Busse, Konviktmeisterin in der Brüder- und Schwesternschaft des Rauhen Hauses in Hamburg und mit Helen Joachim, Studierendenbegleiterin.

VEDD: Ihr seid die älteste Gemeinschaft, ihr geht direkt auf Wichern zurück. 175 Jahre, was hat sich da so verändert bei euch in der Gemeinschaft?
Claudia: Eigentlich sind wir sogar 191 Jahre alt. Vor 191 Jahren hat Wichern das Rauhe Haus gegründet. 1858 hat er die erste Ordnung geschrieben für die Brüder, damit diese sich ordentlich treffen und sich gegenseitig im Blick haben und Geistliches miteinander teilen. Seit 1858 gibt es also eine Ordnung der Brüderschaft, seit 1972 Jahren dann die der Brüder- und Schwesternschaft.
VEDD: Ich vermute, diese Ordnung ist so heute nicht mehr gültig?
Claudia: Nein, die ist natürlich schon mehrfach überarbeitet und mittlerweile durch unseren Zukunftsprozess stark verändert worden, da wir unsere Rechtsform verändert haben. Die Gemeinschaft wird jetzt ein eingetragener Verein. Aber die geistliche Ordnung behalten wir bei. Diese besteht bei uns aus vier Schritten.
Helen: Diese vier Schritte liebe ich, auch wenn sie aus den 80er Jahren kommen. Sie gehören einfach zur Kultur unserer Gemeinschaft. Möchtest du sie in Gänze hören?
VEDD: Ich weiß nicht, wie lange dauert es denn, wenn du mir alles vorliest?
Helen: Ich fange einfach mal an und du unterbrichst mich. „Ein Schritt führt mich in die Gegenwart Gottes, mit dem ich reden kann über alles, über mich, über den Nächsten und den Fernen. Ich verstecke meine Verlegenheit nicht, ich überschreite mein begrenztes Ich.“
VEDD: Ist das immer noch der erste Punkt? Vielleicht verzichten wir dann doch auf die komplette Lesung und nehmen nur die Überschriften?
Helen: Kein Problem. „Ein Schritt bringt mich zurück zu mir selbst, bemüht in der Nachfolge Christi zu leben, in der Freiheit, von der ich weiß und zu oft nur rede. Ein Schritt bringt mich zu denen, die ich mir nicht ausgesucht habe, die ich aber suche, weil ich im Alltag Gemeinschaft erfahren möchte, Geschwisterlichkeit, gelebt in der Hinwendung zueinander, im Wissen von der Erlösung. Ein Schritt stellt mich an die Seite der Missachteten und Ohnmächtigen, unter den Missständen mitleidend, ergriffen von Erfahrung, dass Menschen aneinander verzweifeln.“ Das wird dann jeweils weiter ausgeführt. Ich finde das sind vier schöne Perspektiven auf das diakonische Sein.
VEDD: Wie füllt ihr das ganz konkret? Man hört schon, dass das ein paar Jahre alt ist, aber der Inhalt ist ja nicht überholt.
Helen: Man kann sich jeden Schritt nehmen und daraus Dinge für das diakonische Handeln ableiten. Das hat manchmal mit der diakonischen Tätigkeit zu tun, manchmal auch einfach mit meiner diakonischen Haltung. In einem Schritt heißt es zum Beispiel: „Der vollste Terminkalender hat einen Moment Pause.“ Das ist für mich dann zum Beispiel oft Zeit mit der Gemeinschaft.
Claudia: Für mich ist auch der liturgische Umgang mit den vier Schritten wichtig. Wenn wir zum Beispiel am Einkehrwochenende eine Andacht feiern, dann nutze ich oft das Lied „Strahlen sind es viele“. Zwischen jeder Strophe lesen wir einen Schritt, immer ein anderer Bruder, eine andere Schwester. Daraus entsteht etwas sehr Dichtes. Man merkt, dass wir von unserem gemeinsamen Glauben in der Nachfolge Jesu Christi getragen sind. Das ist ein bisschen old school, aber ich weiß auch, dass jüngere Schwestern und Brüder es sehr schätzen, wenn wir das machen. Die geistliche Ordnung steht auch in der neuen Vereinsordnung am Anfang.
VEDD: Quasi wie eine Präambel?
Claudia: Genau. Wir sind jetzt vier Jahre durch den Zukunftsprozess gegangen, durch Corona wurde er leider sehr viel länger, als geplant. Manches mussten wir jetzt gleich bearbeiten, wie die Strukturveränderungen, die wir uns ja ehrlicherweise nicht ganz freiwillig ausgesucht haben. Der nächste Schritt wird dann sicherlich eine Beschäftigung mit den geistlichen Inhalten sein, aber auch das braucht einen Prozess mit Workshops und verschiedenen Zugängen.
VEDD: Warum seid ihr in den Zukunftsprozess gegangen?

Claudia: Angestoßen wurde das durch meinen anstehenden Ruhestand und durch das neue Diakonen- und Gemeindepädagogendienstgesetz, durch das die Gemeinschaftsbindung aufgehoben wurde und durch das auch die Zuweisungen durch die Landeskirche reduziert wurden. Das war ein gravierender Einschnitt für uns. Dazu kam, dass auch die Stiftung Rauhes Haus hinterfragt hat, wie das Verhältnis der Gemeinschaft zur Stiftung ist. Außenstehende sehen das immer als eins: Klar, ihr gehört zur Stiftung, ihr seid doch das Rauhe Haus. Wir haben das Verhältnis zueinander dann genauer angeschaut und festgestellt, dass wir zwar ideeller Teil der Stiftung sind, aber nicht Teil der Körperschaft. Und da wir eigenständig handeln, brauchten wir nun auch eine eigenständige Rechtsform. Vier Mitgliederversammlungen haben wir uns mit diesem Thema befasst und das war auch nötig, denn die Kultur hat sich durch dadurch geändert. Für viele Brüder und Schwestern stellte das etwas in Frage, was für sie selbstverständlich war: „Die Stiftung ist doch für uns da.“ So bin ich auch geprägt worden. Das mussten wir nun völlig neu aufrollen und vertraglich regeln. Dieser lange Prozess ist im November dann in eine Gründungsversammlung gemündet, bei der wir, die wir seit 1858 eine Ordnung haben, neu als Verein gegründet wurden.
VEDD: Wow, dann seid ihr ja jetzt die jüngste Gemeinschaft im VEDD.
Claudia: Theoretisch, also von vereinsrechtlicher Seite, stimmt das.
VEDD: Welche Auswirkungen hat diese Änderung auf die Gemeinschaft? Du hast schon angedeutet, dass da auch Trauer mitspielt?
Claudia: Einige sind ausgetreten, weil sie gesagt haben: „Das ist nicht mehr die Gemeinschaft, mit der ich groß geworden bin…“. Das muss man respektieren. Es treten ja immer wieder Menschen aus verschiedenen Gründen aus, weil sie sich entfernt haben von der Gemeinschaft oder sich nicht mehr bei der Kirche verankert fühlen oder weil ihr Glauben in Frage gestellt wurde. Das ist ganz normal. Diese Austritte jetzt sind allerdings anders. Die Welt verändert sich, das vergessen einige Brüder und Schwestern manchmal, die gern möchten, dass alles so bleibt, wie es schon immer war.
VEDD: Euer Kern bleibt ja gleich. Ihr bleibt die Brüder und Schwesternschaft. Was ist es denn, was euch so ausmacht?
Claudia: Ich bin, glaube ich, die falsche Person, um das zu beantworten. Ich bin seit fast 40 Jahren Schwester dieser Gemeinschaft und habe jetzt anderthalb Jahrzehnte hauptamtlich gearbeitet. Ich kann mir ein Leben ohne Gemeinschaft gar nicht vorstellen, das gehört zu meinem Leben dazu.
VEDD: Dann bist doch die genau richtige Person, um das zu beantworten.
Claudia: An meinem Grab wird irgendwann eine Schwester stehen, die mich durch die Gemeinschaft kannte. Die Verbindung unter den Geschwistern ist für mich so tief, wir sind so eng verbunden, als Brüder und Schwestern, aber auch als Diakoninnen und Diakone dieser Landeskirche. Helen hat ja vorhin vorgelesen: „Menschen, die ich mir nicht ausgesucht habe“. Das ist der Schlüssel. Manche sind auch meine Freunde, aber die meisten sind mir Geschwister, mit denen ich einen lebenslangen Weg gehe.
VEDD: Was muss ich denn machen, um bei euch diesen Weg mitgehen zu dürfen?
Helen: Eintreten. Das ist ganz einfach.
Claudia: Auch darüber mussten wir natürlich nachdenken, da wir das alte Modell der hochidentifizierten Brüder und Schwestern so nicht aufrechterhalten konnten. Früher hat man uns automatisch im Studium kennengelernt, weil man nach dem Studium eintreten musste, um Diakon oder Diakonin zu werden. Jetzt müssen wir zu zeitgemäßen Formen einladen. Wir haben den Studi-Konvent, verschiedene digitale Formate, einen Podcast, sind verstärkt in der Lehre tätig und laden Studierende ein, uns kennenzulernen. Wir versuchen also, Menschen auf verschiedenen Ebenen zu motivieren, dass sie zu uns gehören wollen.
VEDD: Was muss ich denn erfüllen, um bei euch mitmachen zu können? Ich muss keine Diakonin sein, oder?
Claudia: Nein, das ist schon seit 2007 nicht mehr nötig, wir sind eine Diakonatsgemeinschaft. Wir haben Geschwister, die vom Katholizismus zur evangelischen Kirche gekommen sind und dann Gemeinschaft gesucht haben. Wir haben Ehefrauen von Brüdern, die uns als Gemeinschaft kennengelernt haben. Wir haben Menschen, die einfach auf uns aufmerksam geworden sind und sich Gemeinschaft gewünscht haben. Die Zugänge sind sehr unterschiedlich. Früher musste man einen Antrag stellen, heute geht das recht formlos.
Helen: Der Zugang zu den berufsbegleitenden Studierenden ist viel einfacher, als der Zugang zu den grundständig Studierenden. Da macht es sich bemerkbar, wenn man sich sehr bewusst für das Studium der sozialen Arbeit und Diakonie entscheidet, dann liegt auch der Zugang zur Gemeinschaft näher.
VEDD: Das Studium ist immer noch der Hauptzugangsweg, oder? Auch wenn Menschen, die Diakon oder Diakonin werden, jetzt nicht mehr Gemeinschaftsmitglied werden müssen.

Claudia: Genau. Wir haben ein Diakonie-Curriculum, in dem wir als Gemeinschaft ein Modul mitverantworten.Da geht es darum, Landeskirche, die Struktur von Gemeinschaft und den VEDD kennenzulernen, diakonische Arbeitsfelder und diakonische Identität zu erleben. Wir machen Exkursionen und Hospitationen. Ich hoffe, dass sich nach dem Studium einige entscheiden, Mitglied bei uns zu werden.
VEDD: Die Einsegnung ist bei euch also zweigeteilt, einmal ins Amt bei der Landeskirche und einmal in die Gemeinschaft?
Claudia: Die Aufnahme geschieht formal schon während des Jahres und die Einsegnung gestalten wir mit und segnen darin auch all jene, die während des Jahres eingetreten sind.
VEDD: Welche Veränderungen gibt es denn noch durch die neue Ordnung und durch die Änderungen in der Nordkirche?
Claudia: Die Stiftung und wir wollen und werden weiter miteinander wirken. Der Vorsteher der Stiftung wird nicht mehr Leitung der Gemeinschaft, sondern beratendes Mitglied in den Gremien sein. Der Preis, den wir für die reduzierten Finanzmittel zahlen, ist, dass es keine hauptamtliche Vollzeitkraft als Gemeinschaftsleitung mehr geben wird. Das Rauhe Haus finanziert eine Person, die auch weiterhin Konviktmeister:in heißt, aber mit einem Teil der Stelle eine Stabstelle für diakonische Bildung in der Stiftung hat. Mit der zweiten Teilstelle ist sie Gemeinschaftsleitung. Der Job, wie ich ihn ausfülle, lässt sich heute in der realen Welt gar nicht mehr abbilden. Niemand möchte 50 oder 60 Stunden in der Woche arbeiten und das ist ja auch nicht sinnvoll. Die hauptamtliche Stelle ist quasi eine Brückenbauer-Stelle zwischen Stiftung, Hochschule und Gemeinschaft. Und zusätzlich haben wir zwei ehrenamtliche Menschen, die andere Tätigkeiten in der Gemeinschaftsleitung übernehmen, beispielsweise Besuche bei den Konvikten, Trauernachrichten schreiben, Finanzen organisieren und so weiter. Das ist ein echter Paradigmenwechsel für uns.
VEDD: Wie ist denn abseits von allen Veränderungen bei euch der Gemeinschaftsalltag? Wie kann ich mich bei euch einbringen?
Claudia: Du kannst dich beispielsweise als Konviktleitung in einem unserer zwölf bundesweiten Konvikte einbringen, die alle ehrenamtlich organisiert sind. Auch die Begleitung von Diakoninnen und Diakonen in Ausbildung ist eine Aufgabe und es gibt auch immer wieder Angebote von Gemeinschaftsmitgliedern für Gemeinschaftsmitglieder, wie beispielsweise das Einkehrwochenende oder Segelfreizeiten. Insgesamt sind wir 600 Gemeinschaftsmitglieder, ungefähr 70 davon sind aktiv ehrenamtlich engagiert.
VEDD: Was wünscht du dir für die Zukunft deiner Gemeinschaft?
Claudia: Beim spirituellen Leben haben wir noch Luft nach oben. Ich wünsche mir, dass wir wieder mehr Gottesdienstleben gestalten und feiern, das können wir eigentlich gut. Und es könnte ein bisschen mehr Dampf rein, ein bisschen mehr Modernität. Wir sind offen für gendergerechte Sprache, für weitende Gottesbilder, damit wollen wir uns auf jeden Fall noch weiter beschäftigen. Aber durch diese kräftezehrende Strukturänderung ist manches ins Stocken geraten. Einige sind noch auf dem Weg, der ja Beweglichkeit erfordert. Andere sind hochmotiviert und gehen engagiert vorneweg. Das zusammenzubringen erfordert Kreativität und Geduld und einen langen Atem. Ich bin wirklich stolz auf uns, wir haben diesen ganzen Prozess mit Fachexpertise aus der Gemeinschaft selbst geschafft. Ich traue unserer Gemeinschaft in der Veränderung noch viel zu, das ist großartig!